2013/09/01

Grosses Kanto-Erdbeben von 1923 - 90 Jahre danach

Am 1. September 1923 um 11:59 Uhr, heute vor genau 90 Jahren erlebten die Menschen in der Hauptstadt Tokyo und den angrenzenden Präfekturen das Grosse Kanto-Erdbeben (関東大震災).
Ein Erdbeben mit der Magnitute 7.9 ereignete sich in einer Tiefe von 23 km in der Bucht von Sagamihara (Präfektur Kanagawa) und hatte verheerende Auswirkungen auf die dicht besiedelten Städte Yokohama und Tokyo, und die angrenzenden Präfekturen (vor allem Kanagawa wurde hart getroffen).

Der Ryo`unkaku (凌雲閣) in Asakusa
- das Symbol des damaligen Tokyos wurde komplett zerstört


Sicherlich nicht nur, aber wahrscheinlich auch wegen des Tohoku Erdbebens vom 11. März 2011, berichtet der staatliche Nachrichtensender NHK in den letzten Wochen schon regelmässig über das Grosse Kanto-Erdbeben von 1923 und die Gefahren für die Metropolregion Tokyo, sollte sich ein derartiges Erdbeben dieser Grossenordnung wieder ereignen. Die Doku-Serie von NHK trägt den etwas reisserischen Namen Megaquake (Megaquake 巨大地震), ist aber ansonsten recht informativ und in 3 Serien (zu je mehreren Teilen) rausgebracht worden (Megaquake I, Megaquake II, Megaquake II), die sich jeweils mit verschiedenen Themen, wie auch Tsunami oder dem Hanshin-Awajijima Erdbeben (Kobe-Erdbeben) von 1995 beschäftigen.
Imamura Akitsune
(1870-1948)
In diesen Tagen steht natürlich das Kanto-Erdbeben von 1923 im Mittelpunkt. Gestern, im Teil 3 von Megaquake III wurde über den aus ärmlichen Verhältnissen stammenden japanischen Erdbebenforscher Imamura Akitsune (今村明恒) von der Kaiserlichen Universität Tokyo berichtet, der bereits im Jahr 1905 - 18 Jahre vor dem Kanto-Erdbeben - vor einem möglichen grossen Erdbeben in der Kanto-Region gewarnt hatte, und aufgrund der darauffolgenden Panik in der Bevölkerung wurden seine Aussagen seitens des Instituts wieder revidiert und Imamura als Assistenzprofessor der Kaiserlichen Universität sozusagen auf das "Abstellgleis" gesetzt.

Imamura forschte dennoch weiter zu den Risiken eines Erdbebens in der Region um Tokyo und entwickelte einen Seismographen, der auch ein sehr starkes Erdbeben anzeigen können sollte. Den sogenannten Imamura-shiki kyoshin-kei (今村式強震計, wortwörtlich etwa Imamuras-Starkerdbeben-Messer), der tatsächlich als einziger Seismograph in Japan die Stärke des Kanto-Erdbebens von 1923 anzeigen konnte - somit konnten Epizentrum und Magnitute sehr rasch bestimmt werden. Nachdem sich Imamuras Thesen als richtig erwiesen hatten, wurde er 1923 (nach dem Kanto-Erdbeben) zum ordentlichen Professor für Erdbebenforschung an der Kaiserlichen Universität Tokyo berufen. Den originalen Seismographen, der beim Kanto-Erdbeben ausschlug, kann man im Naturwissenschaftlichen Museum Tokyo (Ueno) bestaunen.

Brandherde und und deren Ausbreitung in Tokyo

Katastrophal war das Erdbeben selbst, aber auch der unglückliche Zeitpunkt, an dem das Erdbeben geschah - Mittags um 11:58 Uhr bereiteten viele Menschen gerade das Mittagessen auf Kohle- oder Holzöfen vor, und dadurch entstanden an vielen Orten gleichzeitig Brände. Negativ wirkte sich auch ein warmer Südwind eines herannahenden Taifuns aus - wodurch die Brände beschleunigt wurden und rasch auf viele Stadtviertel übergriffen. Vor allem die alten und mit Holzhäusern dicht bebauten Stadtviertel in Kanda und Asakusa entlang des Flusses Sumida fielen den Flammen zum Opfer.
Am schlimmsten traf es aber wohl die Menschen, die in den Yokoamicho Park (横網町公園) im Bezirk Sumida, Tokyo, geflüchtet waren. Von ca. 40.000 Menschen, die sich in dem Park versammelten, starben ca. 38.000 Menschen in den Flammen eines Feuersturms. Im gestrigen NHK Special wurde eine Zeitzeugin befragt, die als 7jährige mit ihren drei Geschwistern und der Grossmutter in diesem Park war. Sie erzählte, dass sie Menschen - auch sie - von einem brennenden Wirbelsturm in die Luft gerissen wurde. Überlebt hat sie nur, weil sie in einer Wasserpfütze landete. Die Grossmutter und die Geschwister starben und wurden, wie alle Opfer dieses Feuersturms, an Ort und Stelle eingeäschert. Da sie nicht wussten, welche Knochen zu ihren Familienmitgliedern gehören, haben sie anstelle der letzten Überreste die Scherben der Reisschalen von der Grossmutter und den Geschwistern in die Urnen gegeben.

Was nach Science-Fiction oder Stephen King klingt, wird in der Wissenschaft "Feuersturm" genannt. Ein sogenannter Kamineffekt, der bei grossen Flächenbränden auftreten kann, wobei durch die grosse Hitzeentwicklung heisse Luft über den Brandherd aufsteigt und der dadurch entstandene Sog Frischluft nachzieht. Historische Beispiele für dieses Phänomen gibt es einige, zB den Hamburger Brand von 1842 oder oder den Stadtbrand von Chicago von 1871. Durch Flächenbombardements im Zweiten Weltkrieg wurden auch viele deutsche Städte Opfer eines Feuersturms und im Zuge des Atombombenabwurfes auf Hiroshima gab es einen nuklearen Feuersturm. 


Insgesamt starben mehr als 105.000 Menschen in Tokyo, Kanagawa, Chiba und den umliegenden Präfekturen, durch einstürzende Gebäude, Brände oder den Tsunami, der mit einer Höhe von 12 Metern in Atami (Shizuoka) und 9 Metern auf die Boso-Halbinsel (Chiba) traf. 

Soziale Unruhen fuehrten dazu, dass linke Aktivisten und Koreaner verfolgt und ermordet wurden, man geht von ca. 300 Todesopfern aus, wobei die Gewalt einerseits von Seiten der Polizei, und andererseits auch von Seiten der Bürger (wo die Polizei dann die Opfer beschützte) ausgeübt wurde. Es wurden Gerüchte verbreitet, dass Koreaner Brunnen vergiften würden. Allerdings wurden die chaotische Situation nach dem Erdbeben auch genutzt, um politisch unliebsame Menschen zu verfolgen. Berühmtestes Opfer der Ausschreitungen sind wohl die Feministin und Anarchistin Itō Noe ( 伊藤 野枝) und der Anarchist Ōsugi Sakae (大杉 栄), die gemeinsam mit dem 6 Jahre alten Neffen Ōsugis von der Geheimpolizei in den nachfolgenden Wirren des Kanto-Erdbebens ermordet wurden. Dieser "Zwischenfall" ist als Amakasu-Zwischenfall bekannt. Amakasu Masahiko wurde dafuer von einem Militaertribunal zu 10 Jahren Haft verurteilt, aber nach 3 Jahren entlassen und in die Mandschurei geschickt (wo er an dem Mukden-Zwischenfall beteiligt war). 


Zerstörung in Asakusa nach dem Erdbeben

Mit der Gefahr, dass erneut ein Erdbeben im Ausmass des Grossen Kanto-Erdbebens auf die Metropolregion Tokyo trifft, muss man leben. Allerdings sagte Imamura auch - ich zitiere frei - Erdbeben sind unvermeidbar, aber die menschliche Katastrophe durch ein Erdbeben kann vermieden werden. Der 1. September ist in Japan der Nationale Katastrophentag - kein Feiertag, aber ein Tag, an dem an verschiedenen Orten in ganz Japan Erdbebenübungen abgehalten werden. Die Bewohner der Kanto-Region sind sich der Gefahr bewusst, und das Tohoku-Erdbeben von 2011 hat den Leuten in der Kanto-Region gezeigt, dass grosse Erdbeben eine reale Gefahr in Japan sind und man sich darauf vorbereiten muss.



Weiterführende Links:
Bilder vom Grossen Kanto-Erdbeben 1923 - Asahi Shinbun
NHK Special - Megaquake
Link zum Seismographen Imamuras - National Museum of Nature and Science





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